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2023-01-16

Der Zufall und das Wunder, das du bist

320px-Correggio_Die_Heilige_Nacht_1522-1530.jpgWir werden mit der Geburt in die Welt geworfen, so hat Martin Heidegger es beschrieben. Und wir landen zufällig an einem Ort, in einer Familie, in einer Epoche, in einer Gesellschaft. Nichts davon haben wir uns ausgesucht, und ob wir von unserem primären Umfeld freudig und liebevoll aufgenommen werden, oder ob unsere bloße Existenz als unerwünscht bewertet wird, das ist Glückssache.
Das „Glücksspiel“, das über unseren Start ins Leben entscheidet, hat tief- und weitreichende Konsequenzen für unsere weitere Entwicklung und unseren Weg. Diese Konsequenzen können wir heute immer besser verstehen und bis auf die Zellebene und in die neuronalen Vernetzungen hinein nachvollziehen. In Wahrheit brauchen wir aber keine bildgebenden Verfahren oder mikroskopischen Untersuchungen, um zu wissen, dass ein schlechter Lebensstart mit lieblosen, vernachlässigenden oder gewalttätigen Eltern und Bezugspersonen für ein Kind eine Katastrophe ist. Das Tragische und gleichzeitig Beeindruckende am Menschsein ist, dass wir als unglaublich anpassungsfähige Lebewesen durchaus in der Lage sind, eine solche Katastrophe zu überleben und danach sogar ein einigermaßen normales Leben zu führen. Aber die Anpassung an eine lebensfeindliche Startsituation hat ihren Preis.

Menschenkinder sind sehr verletzliche Wesen und gerade in den ersten Monaten vollkommen auf äußere Hilfe angewiesen, auf Schutz, Nahrung, Wärme und auf liebevolle Zuwendung. Das erste Lebensjahr wird auch das „extrauterine“ genannt, weil es schon außerhalb des Uterus verbracht wird, obwohl der Entwicklungsstand im Vergleich zu Tieren eigentlich noch kein Draußen-Leben zulässt. Menschen kommen sozusagen als Nichtskönner auf die Welt, die aber die ganz erstaunliche Fähigkeit haben, sich schon in den ersten Monaten an ihr Umfeld anzupassen, sich einzustimmen und zu spüren, was es da draußen an emotionalen Ressourcen und Herausforderungen gibt. Die Anpassungsfähigkeit von kleinsten Kindern wird häufig unterschätzt, weil sie noch nicht mit Sprache oder koordinierten Handlungen einhergeht. 

Antonio da Corregio, Die Heilige Nacht, zwischen 1522 und 1530,
Gemäldegalerie Alte Meister, Dresden

Tatsächlich sind Kinder ja lange in den offensichtlichen Fähigkeiten unbeholfen und brauchen Unterstützung beim Essen, Laufen, Zähneputzen, Schuhebinden usw. Aber was wir Menschen als zutiefst soziale Wesen von Geburt an und vermutlich schon im Mutterleib können, ist zu spüren, ob wir sicher sind, ob Mama und Papa sich uns liebevoll zuwenden oder vielleicht nur körperlich anwesend oder sogar gefährlich sind. Und ganz früh schon fangen Menschenkinder an, unbewusste Strategien zu entwickeln, mit denen sie sich um eine Bindung zu bemühen, wenn diese eben nicht sicher und selbstverständlich ist.

Wenn Mama die Bindung jedes Mal unterbricht, wenn ihr Kind wütend schreit oder „zuviel“ will, dann entwickelt dieses Kind vielleicht unbewusst die Strategie, möglichst brav und bedürfnislos zu sein. Und gibt dabei einen Teil von sich selbst für die Bindung zur Mutter auf, was in dieser Situation absolut vernünftig ist, denn Bindung bedeutet für Kinder nicht weniger als Überleben. Solche Überlebensstrategien entwickeln zu können, ist eine fantastische Fähigkeit, die wir Menschen haben. Allerdings sind diese früh und unbewusst ausgebildeten Strategien hartnäckig und lassen sich im späteren Leben nicht einfach so wieder ablegen, was dann oft zu psychischen und sozialen Problemen führt. Man könnte sagen: Wenn ich mich als Kind perfekt an ein lebensfeindliches und verrücktes Umfeld angepasst habe, dann hat das zwar auf geniale Weise mein Überleben gesichert, aber diese Überlebensstrategien machen es mir gleichzeitig schwer, in einem gesünderen Umfeld und auf eine selbstbestimmte Weise zu leben. Oft müssen Menschen, die einen schlechten Start hatten, deshalb als Erwachsene lange und ausdauernd daran arbeiten, alte Strategien aufzulösen, die einmal überlebenswichtig waren und die sich heute als hinderlich erweisen. Das ist nicht nur schmerzhaft, sondern auch furchtbar unfair. Es ist eine soziale Ungerechtigkeit, über die wir viel zu selten sprechen.

Wie schön wäre es demgegenüber, wenn alle Kinder im Leben willkommen geheißen würden wie Jesus auf dem Bild „Die heilige Nacht“ von Corregio. Hier strahlt das warme Licht der bedingungslosen Liebe und umhüllt das Neugeborene wie ein Schutzmantel. Die äußeren Umstände der Geburt sind alles andere als ideal, so wie es uns in der Weihnachtsgeschichte erzählt wird. Aber das spielt eine ganz untergeordnete Rolle, weil das Kind von „göttlicher“ Liebe und Be-Wunderung umgeben und getragen wird. Wie schön wäre es, wenn alle Kinder als etwas ganz Besonderes, als wertvoll und auserwählt betrachtet würden, so wie es auf dem Bild dem kleinen Jesus geschieht.

Ausgerechnet der agnostische Jean-Paul Sartre, dem man zu Lebzeiten vorgeworfen hat, er würde eine düstere und hoffnungslose Philosophie vertreten, hat in seinem Spätwerk die Notwendigkeit beschrieben, Kinder genauso im Leben willkommen zu heißen wie das Jesuskind auf dem Gemälde von Corregio. Sartre benutzt dafür den abstrakten und etwas nüchternen Begriff der Valorisation, aber was sich dahinter verbirgt ist alles andere als eine blutleere Theorie. Ein Kind, meint Sartre, sollte absolute Wertschätzung und unbedingte Liebe erfahren dürfen. Die Erwachsenen sollten ihm das Gefühl vermitteln, dass es nicht sinnlos in eine absurde Welt geworfen wurde, sondern dass es in der Welt seinen besonderen Platz einnimmt, dass sein Dasein wichtig und wunderbar ist, dass es „gefehlt“ hat. Fast nebenbei beantwortet Sartre hier eine der großen und klassischen philosophischen Fragen, nämlich die nach dem Sinn unseres Lebens. Sinn ist in dieser Perspektive nämlich etwas, das uns durch andere zuteil wird, zuallererst durch unsere Eltern: „In Wahrheit sind Sinn und Unsinn in einem menschlichen Leben menschlich und geschehen dem Menschen durch die Menschen“.

Ein gutes, liebevolles und freudiges Willkommen im Leben schenkt einem Kind ein grundlegendes Gefühl von Sinn, das sich wie ein Schutzmantel um sein Dasein legt. Unter diesen glücklichen Bedingungen kann ein Kind tiefes Vertrauen in sich und andere ausbilden und sich auf dieser Basis später den Herausforderungen des Lebens stellen. Fehlt hingegen dieses Urvertrauen, dann ist dies wie eine Wunde, die nie richtig verheilt, und die einen Menschen daran hindert, sein Leben aktiv und selbstbestimmt zu gestalten. An diesem Punkt bin ich optimistischer als Sartre und glaube, dass die Wunde des Schlechtgeliebtseins zwar tief und schmerzhaft ist, aber dennoch verheilen kann. Ich bin außerdem überzeugt davon, dass es einen unverletzbaren Selbstkern gibt, unsere ursprüngliche und ganz eigene Lebendigkeit, die auch unter sehr schlimmen Startbedingungen nicht zerstört wird, sondern in uns überwintert hat und darauf wartet, wachsen und strahlen zu dürfen.

Wir können die Vergangenheit nicht ändern. Wir können unsere nicht-idealen oder schlechten Startbedingungen und unsere alten Verletzungen nicht ungeschehen machen. Aber wir können uns heute selbst mit einem warmen Blick betrachten, als das bedingungslos geliebte Menschenkind, das wir damals hätten sein sollen. Wir können immer öfter einen wohlwollenden, mitfühlenden Blick auf unsere Traumata und unsere Überlebensstrategien werfen. Und wir können unser Überleben und unseren unverletzten Kern der Lebendigkeit als die Wunder betrachten, die sie sind. Auf diese Weise können wir uns selbst nach und nach mit dem liebevollen, sinnstiftenden Schutzmantel umhüllen, auf den wir vielleicht bisher verzichten mussten.

Christina Münk

Admin - 20:13:45 @