2023-01-29
Die Wahrheit kann wehtun. Besonders dann, wenn sie mit einer Enttäuschung einhergeht: Mein Partner gesteht mir, dass er mich betrogen hat, eine Freundin gibt zu, dass sie ein Geheimnis weitererzählt hat, die Stelle, auf die ich so gehofft habe, ist in Wirklichkeit schon längst intern vergeben – das sind Wahrheiten, die schmerzen, wenn wir mit ihnen konfrontiert werden. Letztendlich erlauben uns diese Wahrheiten aber, fundierte Entscheidungen zu treffen und weiterzugehen. Was uns viel tiefer und nachhaltiger schädigen kann, sind demgegenüber Verletzungen, die durch ein Verdrehen, Vernebeln oder Leugnen der Wahrheit entstehen. Ich spreche von Formen epistemischer Gewalt, wie Gaslighting, Doppelbotschaften und Manipulationen. Den Begriff epistemische [= die Erkenntnis betreffend] Gewalt benutze ich hier, um deutlich zu machen, dass die Phänomene, um die es in diesem Artikel geht, so gefährlich und schädlich sein können wie emotionale, verbale oder körperliche Übergriffe. Meistens benutzen Täter:innen ja eine Mischung dieser Gewaltformen, um sich machtvoll zu fühlen.
Orientierung ist ein ganz grundlegendes menschliches Bedürfnis. Wir wollen wissen, wo wir sind und auch woran wir sind. Wir wollen die Situation verstehen und das Verhalten der Menschen um uns herum einschätzen können. Nur so können wir uns sicher fühlen und überlegt handeln. Wenn aber unsere Orientierung durch epistemische Gewalt dauerhaft gestört wird, dann hat das gravierende negative Folgen.
Eine besonders heimtückische und oft schwer greifbare Form epistemischer Gewalt ist Gaslighting. Damit ist sind Verhaltensweisen gemeint, mit denen Menschen – oft in engen Beziehungen – systematisch desorientiert und zutiefst verunsichert werden. Eine klassische Gaslighting-Taktik besteht darin, einer anderen Person immer wieder die Wahrnehmung und die Vernunft abzusprechen: „Das habe ich nie gesagt. Das bildest du dir wieder ein“, „Du bist ja total paranoid! Beruhig dich mal“. Typisch ist auch das Kleinreden oder Leugnen von eigenen Fehlern, indem die andere Person für „zu sensibel“, „hysterisch“, „humorlos“ oder „unzurechnungsfähig“ erklärt wird. Auch das Andichten von schlechten Eigenschaften, um die andere Person ständig zu beschämen oder in Erklärungsnot zu bringen, ist eine Strategie von Gaslighter:innen: „Wenn du nicht so anstrengend/kompliziert/dumm wärst, hätten wir gar kein Problem“. Opfer von anhaltendem Gaslighting beginnen ihre eigene Wahrnehmung der Realität in Frage zu stellen, zweifeln an sich und verlieren dadurch zunehmend ihr Selbstvertrauen.
Zum Glück wird über das Thema aktuell viel geschrieben und gesprochen, was für die Opfer sehr wichtig und entlastend ist. Denn Gaslighting kann Menschen traumatisieren und bis hin zu schweren psychischen und psychosomatischen Symptomen krank machen.
Alle Manipulationen – also Strategien, bei denen die Wahrheit verschleiert, verdreht oder geleugnet wird, um andere Menschen zu beeinflussen – sind Angriffe auf die Orientierung. Besonders schädlich ist das, wenn ein Machtungleichgewicht besteht, wie in der Beziehung zwischen Eltern und Kindern. Manipulative Eltern nutzen z. B. Angst und Schuldgefühle, um (auch noch bei ihren erwachsenen Kindern) ihre Ziele zu erreichen. „Wenn du mich so aufregst, bekomme ich wieder Herzrasen!“, „Du bringst mich noch ins Grab“, „Du kannst nicht so weit wegziehen – dann bin ich doch ganz alleine“. Die Botschaft hinter solchen emotionalen Manipulationen lautet: Du bist verantwortlich für mein Leiden und mein Wohlergehen und musst deswegen das tun, was ich will. Und das ist nicht wahr. Aber für die Opfer dieser epistemischen Gewalt ist es in der Regel sehr schwer, sich der schädlichen Wirkung solcher Manipulationen zu entziehen, die das eigene Leben regelrecht vergiften können. Zumal manipulative Menschen nur selten bereit sind, ihr Verhalten zu reflektieren. Oft hilft dann nur, sich zu distanzieren und vehement für die eigenen Grenzen einzustehen.
Eine weitere Form epistemischer Gewalt sind Doppelbotschaften, mit denen wir in persönlichen Beziehungen, aber auch im Arbeitskontext konfrontiert werden. Doppelbotschaften (Double-Bind) sind in sich widersprüchliche Aussagen oder Aufforderungen, die uns in Handlungskonflikte bringen. Es werden nämlich zwei Botschaften gleichzeitig vermittelt, die sich nicht miteinander vereinbaren lassen – wie man’s macht, macht man`s verkehrt. Der Widerspruch einer Doppelbotschaft kann entweder ausgesprochen sein oder er besteht zwischen dem Gesagtem und Mimik, Gestik, Tonfall usw. Eine ausgesprochene Doppelbotschaft ist z.B.: „Das muss heute noch fertig werden! Aber seien Sie besonders sorgfältig – wir können uns keine Fehler erlauben“. (Wie jetzt – schnell oder sorgfältig?) Zu dieser Kategorie gehören auch „Beleidigungskomplimente“ wie: „Du kannst aber gut einparken. Für eine Frau“. (Äh, danke?)
Doppelbotschaften mit einer non-verbalen Ebene sind oft schwieriger zu fassen und noch giftiger, wie z.B. „Du kannst machen, was du möchtest“ in verletztem Tonfall, „Es ist alles okay“ mit eisiger Miene, oder an ein Kind gewandt: „Du kannst mir alles erzählen, ich werde nicht böse“ mit unheilvoller Stimme und abwehrender Körperhaltung. Eine Doppelbotschaft liegt auch dann vor, wenn ein Unternehmen mit flachen Hierarchien und gutem Arbeitsklima wirbt, aber Kritik von Mitarbeitenden abgestraft wird. Oder wenn ich eigenverantwortlich und kreativ an einem Projekt arbeiten soll, mein Chef sich aber mit ständigem Micro-Management einmischt. Eine krasse, zerstörerische Doppelbotschaft besteht, wenn Menschen behaupten, ein Kind zu lieben und es gleichzeitig vernachlässigen, schlagen oder sexuell missbrauchen.
Ein Umfeld, das von Doppelbotschaften geprägt ist, kann Menschen zutiefst verwirren und regelrecht verrückt machen. Das gilt für Erwachsene und für Kinder natürlich in noch größerem Maße. Ein Kind, dass mit Doppelbotschaften von Bezugspersonen aufwächst, wird im Grunde vor die Wahl gestellt, zu glauben, was es hört, oder zu glauben, was es fühlt und erlebt. In jedem Fall wird es extrem verunsichert, und das hat gravierende Auswirkungen auf das spätere Beziehungsverhalten und auf die Persönlichkeit. Es gibt sogar Untersuchungen darüber, dass Kinder, die mit Doppelbotschaften aufwachsen, ein erhöhtes Risiko haben, schizophren zu werden. Wenn dies auch in der Psychologie umstritten ist, möchte ich hier doch auf ein interessantes Phänomen hinweisen: Ein Symptom, das häufig bei Schizophrenie und allg. bei Psychosen vorkommt, ist der Konkretismus. Dabei nehmen die Betroffenen alles wörtlich und können deswegen keine Metaphern, Redensarten oder Sprichwörter (mehr) verstehen. Fast so, als würde das System sich vor weiterer Verwirrung schützen, indem es sich weigert, mehr als eine Botschaftsebene gleichzeitig wahrzunehmen.
Zwei weitere Formen epistemischer Gewalt, die ich noch erwähnen möchte, sind bewusstes Lügen und Bullshit. Sicher, kleine Unehrlichkeiten und Notlügen haben wir alle schon benutzt, um Konflikte und Schwierigkeiten zu vermeiden oder aus Höflichkeit. Aber wer in einer Beziehung immer wieder oder in Bezug auf entscheidende Dinge lügt, tut der anderen Person Unrecht und zerstört die Basis für eine wahrhaftige Freundschaft oder Liebesbeziehung. Herauszufinden, dass man wiederholt oder gravierend belogen wurde, kann jemanden tief erschüttern und demütigen und das Vertrauen in andere Menschen nachhaltig beschädigen. Nicht zuletzt bedeutet belogen zu werden, dass einem bewusst Sachverhalte vorenthalten werden, die man für eine fundierte Entscheidung bräuchte: Wenn ich gewusst hätte, dass mein Gegenüber in Wahrheit verheiratet ist, wäre ich nicht zu dem Date gekommen. Wenn ich gewusst hätte, dass der neue Job in Wahrheit zu 90% aus Sachbearbeitung besteht, hätte ich ihn nicht angenommen.
Bullshit ist eine Form von Unehrlichkeit, die der Philosoph Harry Frankfurt so beschrieben hat: Bullshit wird dann hervorgebracht, wenn Menschen sich genötigt sehen oder die Gelegenheit haben, über Dinge zu reden, von denen sie in Wahrheit wenig oder keine Ahnung haben. Wer Bullshit redet, macht anderen etwas vor. Aber es geht anders als beim Lügen dabei nicht um eine falsche Darstellung der Sache, über die jemand redet, sondern um eine falsche Darstellung von sich selbst. Bullshitter tun so, als wüssten sie, worüber sie sprechen und hätten etwas Wichtiges zu sagen. In Wahrheit ist Ihnen aber gleichgültig, was sie da eigentlich erzählen. Bullshit ist ein Phänomen, das verbreitet und im öffentlichen Leben „normal“, aber überhaupt nicht harmlos ist. Denn auch diese Form von Verdrehen und Verdecken der Wahrheit verhindert wahrhaftigen Austausch, Orientierung und fundierte Entscheidungen.
Wie schütze ich mich vor epistemischer Gewalt?
Über alle Formen epistemischer Gewalt, die ich erwähnt habe, ließe sich noch vieles sagen und auch darüber, wie man damit umgehen, sich schützen oder Erfahrungen damit verarbeiten kann. Du findest am Ende des Artikels deshalb eine Reihe von Links mit weiterführenden Informationen. Ganz generell ist es ein guter Rat bei epistemischer Gewalt, das eigene Bauchgefühl ernst zu nehmen und als Anker für die Orientierung zu nutzen. Manipulative Menschen sprechen anderen gerne ihre Wahrnehmung ab und stellen ihre eigene verquere Perspektive als absolute Wahrheit dar. Umso wichtiger ist es, dass du selbst auf deine unguten Gefühle hörst. Wenn du dich im oder nach dem Kontakt mit einer Person immer wieder verwirrt, verunsichert, überrumpelt, beschämt, energielos oder diffus schuldig fühlst, dann stimmt etwas nicht. Sprich mit einer außenstehenden Person darüber. Eine andere Perspektive hilft dir dabei, Manipulationen und Widersprüche zu durchschauen und wieder klarer zu sehen.
Von dem Schriftsteller Augusten Bourrough stammt der Satz: „The truth fills the world with fresh air“ – die Wahrheit erfüllt die Welt mit frischer Luft. Tatsächlich ist es manchmal möglich, mit der eigenen Wahrhaftigkeit die Luft zu klären und eine unehrliche, verwirrende Situation aufzulösen. Wenn das gelingt, fühlt es sich wirklich so klar und wohltuend an wie frische Luft zu atmen. Das geht z.B. dann, wenn dich jemand ohne böse Absicht mit einer Doppelbotschaft konfrontiert hat, du deine Verwirrung offen ansprichst („Mir ist gerade nicht klar, was du von mir möchtest …“) UND die andere Person interessiert an einem offenen Gespräch und fähig zur Reflexion ist. Ob letzteres der Fall ist, merkst du in der Regel sehr schnell. Gerade im Kontakt mit Gaslighter:innen solltest du dich aber nicht in endlose, vernebelnde Wahr-oder-Falsch-Diskussionen verwickeln lassen, sondern auf die Richtigkeit deiner Wahrnehmung bauen und Abstand nehmen. Denn wer Gaslighting als Machtmittel benutzt, hat kein Interesse an einem wahrhaftigen, klärenden Gespräch. Menschen, in deren Gegenwart du dich ruhig, sicher und innerlich klar fühlst – Freund:innen oder professionelle Helfer:innen –, können dich dabei unterstützen, dich von schädlichen Manipulationen zu distanzieren.
Weiterführende Links:
Gaslighting - Manipulation erkennen | BARMER
Gaslighting erkennen und sich wehren [Artikel & Tipps] - Selfapy
Double Bind – Wenn doppeldeutige Botschaften zur Belastung werden | bigKARRIERE
5 Dinge, die manipulative Menschen tun | myMONK.de
Foto: © Pexels / Elijah O`Donnell
Admin - 14:47:05 @
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