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2023-01-04

Songs to think … about life #1

Über-Leben mit Gloria Gaynor - I will survive!

pexels-photo-593467.jpgAt first I was afraid, I was petrified, kept thinking I could never live without you by my side … and I grew strong, and I learned how to get along! Gloria Gaynor zeigt uns in dem Discoklassiker von 1978 nicht weniger als den Weg heraus der tiefen Krise eines Liebeskummers, und zwar durch Überleben. Und wer schonmal großen Liebeskummer hatte, weiß, dass in diesem Zustand Überleben alles andere als banal ist. 
Es geht in dem Song aber nicht um ein Überleben im Sinne eines bloßen Weiteratmens und -existierens, sondern um ein Über-Leben, ein Über-Sich-Hinauswachsen, ein persönliches Weiter- oder Höherkommen. Peter Sloterdijk hat das das „supraversive Prinzip“ genannt: die Überwanderung meiner selbst und meines Lebens, wie es einmal war. „I`m not that chained up little person that I used to be … I will survive“. Ich bin stärker, ich bin unabhängiger, ich bin jemand Neues geworden – durch die Krise.

Aber wie geht das? Wenn wir einmal bei Sloterdijk, dem Fitnesstrainer unter den Philosophen, bleiben, dann können wir die Krise als eine Störung des Gewohnten beschreiben. Wir schwimmen für den allergrößten Teil der Zeit gewissermaßen im Fluss unserer Gewohnheiten dahin, also im Fluss der Aktionsmuster, die wir – bewusst oder unbewusst – eingeübt haben und unzählige Male wiederholen: gehen, essen, Zähneputzen, die Maus herumschieben, bestimmte Meinungen haben oder auch sich klein und abhängig fühlen. Das ist der Mensch, laut Sloterdijk: ein Wesen, das aus der Wiederholung, aus der Übung entsteht – wobei diese „Übungen“ zu einem großen Teil nicht bewusst reflektiert werden. 

Und dann passiert manchmal etwas, das uns aus dem Fluss der Gewohnheiten und des Gewöhnlichen herauskatapultiert und von uns verlangt, uns das bisher Gewohnte und Geübte einmal genauer anzuschauen. Weil es wie gewohnt einfach nicht weitergeht. Dieses bewusste Anschauen führt dann idealerweise zu einem Aufschwung ins Über-Gewöhnliche. Das klingt wie ein artistischer Akt, und so ist es auch gemeint, denn um sich über das bisher Geübte hinaus zu schwingen müssen ganz neue Dinge eingeübt und vielleicht sogar erfunden werden. Das ist schwierig und anstrengend und braucht Zeit.

Die Begriffe und Bilder von Sloterdijk wirken einerseits fast zu abstrakt und zu harmlos, um eine existenzielle Krise zu beschreiben, wie wir sie nach einer Trennung erleben können. Aber es kann, wenn wir in einer Krise stecken und unser Leben notgedrungen ändern müssen, andererseits sehr hilfreich sein, sich selbst als einen übenden Menschen zu betrachten. Wenn mein Partner mich verlässt, dann beginne ich zu üben, diesen neuen Gedanken zu verstehen und auszuhalten. Ich übe es immer wieder, Stunde um Stunde, jeden Tag, bis es irgendwann leichter ist und nach unzähligen Wiederholungen schließlich nicht mehr schmerzt. Ich übe, wieder alleine durchs Leben zu gehen und mir dabei selbst eine gute, liebevolle Gesellschaft zu sein. Ich übe es jeden Tag, bis aus meinen ersten unbeholfenen und traurigen Versuchen etwas Stabiles und Sicheres wird und ich sogar mit neuem Selbstbewusstsein durch die Welt gehen kann. „I used to cry, but now I hold my had up high“. Ich übe, nicht auseinanderzufallen – „just trying hard to mend the pieces of my broken heart“. Ich übe es immer wieder, jeden Tag, bis es irgendwann leichter wird und ich schließlich die Basis geschaffen habe, um mein Training zu steigern. Jetzt übe ich, unabhängiger zu sein und mein Herz für eine neue, reifere Liebe zu öffnen. Natürlich ist das schwer und mühsam und anstrengend, schließlich werden hier unter schmerzhaften Bedingungen ganz neue innere Muster etabliert. „It took all the strength I had“. Das Üben, um eine Krise zu überwinden, kostet Kraft, Tränen und Ausdauer. Deswegen ist es so gut, sich beim Training unterstützen zu lassen.

Liebe Menschen können uns beim Üben helfen, indem sie unsere ersten, wackeligen Wiederholungen geduldig begleiten und bestätigen. „Ich gucke mir sein Instagram-Profil nicht mehr an! … Oder?“ – „Richtig, du guckst es dir nicht an.“ Wir brauchten schließlich (und hatten hoffentlich) auch eine geduldige Begleitung, als wir Schreiben, Fahrradfahren oder Gitarrespielen gelernt haben. Menschen, die unter akutem Liebeskummer leiden, wissen, dass sie dazu neigen, immer wieder dasselbe zu erzählen und immer wieder dieselben Gefühlsachterbahnen zu durchleben. Oft schämen sie sich dafür und fühlen sich als Zumutung für ihr soziales Umfeld. Und ja, einen nahestehenden Menschen mit Liebeskummer zu begleiten kann eine Herausforderung sein. Aber hier kann die Perspektive von Sloterdijk beide Seiten entlasten. 

So könnte ich, wenn ich mit Liebeskummer zu kämpfen habe, zu meinen Freund:innen sagen: „Ich werde in euch den kommenden Wochen voraussichtlich mehrere Hundert Male bitten, mir zu bestätigen, dass die Trennung notwendig war und mein Leben weitergehen wird. Das tue ich nicht, um euch zu nerven oder weil ich hoffnungslos feststecke, sondern weil ich diese neuen Gedanken üben muss. Ich trainiere nämlich für ein neues Leben, in dem ich über mich hinauswachsen werde. Es wäre total hilfreich, wenn ihr das aushalten und mich beim Trainieren unterstützen könntet!“. Die Freund:innen wüssten dann, was ich zum Üben brauche, und wären von dem Druck befreit, mich abzulenken oder etwas vermeintlich Aufmunterndes sagen zu wollen. Es würde mir helfen, wenn sie mich meine Übungen wiederholen lassen, mein Training befürworten, meine Fortschritte bemerken, meine Trainingspausen verstehen und mich liebevoll schubsen, wenn ich das Üben einmal zu sehr vernachlässigen sollte.

Wenn wir uns in einer Krise selbst als Übende betrachten, die gerade ganz neue Fertigkeiten erlernen, dann gelingt es uns eher, Geduld mit uns selbst und diesem Prozess zu haben. Das Üben braucht seine Zeit, und das ist völlig normal und in Ordnung. Irgendwann kommt der Moment, in dem wir die ersten Veränderungen an uns wahrnehmen und darüber staunen können, was das Training aus uns gemacht hat – und ahnen, was noch möglich ist. „I will survive – hey, hey!“

Christina Münk
  

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