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2023-03-20

Songs to think … about life #2

Wenn das Menschsein wehtut (Papa Roach – Last Resort)

pexels-jure-iri-691919.jpg„Cut my life into pieces, this is my last resort … and I’m contemplating suicide.“ Papa Roach besingen in ihrer ersten Single aus dem Jahr 2000 selbstverletzendes Verhalten und Suizidgedanken. Hier geht es also um Verzweiflung und gefühlte Ausweglosigkeit. Man könnte deswegen vielleicht denken, das Lied handelt von einer schweren Depression, aber dafür steckt in dem wuchtigen Nu-Metal eigentlich zu viel Kraft und Leidenschaft. Menschen in einer depressiven Phase erleben oft eine überwältigende innere Hemmung des Wollens und des Handelns. Alles ist mühsam, die Schwerkraft scheint sich zu verdoppeln und alltägliche Dinge sind kaum noch zu bewältigen. Nichts scheint es mehr wert zu sein, sich dafür zu bewegen. Der Körper tut so, als ginge das Leben ihn nichts mehr an. Gefühle von Sinnlosigkeit und Verzweiflung und nach innen gerichtete Wut wirken bei einer Depression meistens lähmend, oder führen zu einem nervösen, freudlosen Funktionsmodus. Das wirkt in dem Song anders. Hier ist eine kraftvolle Lebensenergie zu spüren, auch wenn über Todesgedanken gesungen wird. Hier spürt man etwas Rebellisches in der Resignation – ein Mensch in der Revolte gegen die Bedingungen seines Lebens. Und des Lebens.

„I can’t go on living this way. Nothing’s alright“. So kann ich nicht weiterleben, nichts ist in Ordnung. Aber was bedeutet das eigentlich? Tatsächlich geht es hier um zwei Ebenen der Verzweiflung, um eine ganz persönliche, die mit der eigenen Biographie zusammenhängt, und um eine existenziell-menschliche. Betrachten wir zuerst die existenziell-menschliche: Wenn man sich einmal anschaut, was hier so beschrieben wird – ich habe keinen Überblick, ich kann keine Ordnung erkennen, ich habe nach Liebe, Sinn und Antworten bei einer höheren Instanz gesucht, aber es sind nur noch mehr Fragen aufgetaucht, da ist ein Nichts in meinem Innern – dann müsste man aus existenzphilosophischer Sicht sagen: „Ja, so ist das. Du bist hier einigen Wahrheiten des menschlichen Daseins auf die Spur gekommen, und das ist an sich nichts Schlimmes – das ist einfach so“. Die Existenzphilosophie erklärt uns nämlich: Wir sind zufällig, ohne Sinn und Daseinsberechtigung in eine genauso zufällige Welt geworfen worden. Keine höhere Instanz kann uns erklären, warum und wozu oder wie wir leben und handeln sollen. Selbst wenn es Gott, Göttin oder Gottheiten geben sollte – offenbar sagen sie uns ja nicht, was wir konkret machen sollen. Wir sind also letztlich allein in unseren Entscheidungen und müssen alleine unseren Lebensweg finden und vor uns selbst verantworten. Dieser Weg ist außerdem endlich. Wir wissen, dass wir irgendwann sterben werden, und wir wissen, dass wir nicht fertig sein werden, wenn das passiert. Und als ob das alles nicht schon schwierig genug wäre, ist in unserem Inneren auch noch eine Art Nichts, eine Unbestimmtheit, die sich Freiheit nennt. Zu dieser Freiheit sind wir verurteilt, ob wir wollen oder nicht. Deswegen müssen wir immerzu wählen und entscheiden, ohne jemals so etwas wie Vollkommenheit oder totale innere Sicherheit zu erreichen. Und das, liebe Leute, sind die Bedingungen unserer Existenz. Das bedeutet es, als Mensch auf dieser Welt zu leben.

Diese Bedingungen der menschlichen Existenz, das erklären uns Kierkegaard, Heidegger oder Sartre, sind uns im normalen Alltag aber nicht bewusst oder nicht richtig klar. Wir sind meistens in Gewohnheiten und Üblichkeiten eingebunden, fühlen uns aufgehoben in Beziehungen, gerechtfertigt in Glaubenssystemen oder politischen Bewegungen und denken normalerweise nicht darüber nach, was es eigentlich heißt, als Mensch in dieses Leben geworfen worden zu sein. Und wenn uns die Grundbedingungen des menschlichen Daseins dann doch einmal richtig klar werden, dann passiert das nicht als intellektuelle Erkenntnis, sondern dann erwischt es uns emotional – dann sind wir entsetzt wegen unserer Endlichkeit, haben Angst vor unserer Freiheit, verzweifeln wegen unserer Einsamkeit. Das passiert oft dann, wenn das Leben selbst uns kalt erwischt. 
Wenn ich zum Beispiel nur knapp einen Fahrradunfall vermeiden konnte, dann kann es sein, dass mit dem Schrecken darüber plötzlich das Wissen um meine Verletzbarkeit und Sterblichkeit in mir fühl- und greifbar wird und mich überwältigt. Oder wenn ich mich von meinem Partner unverstanden fühle, kann sich plötzlich das Gefühl in mir breit machen, dass die ganze Welt irgendwie fremd und sinnlos ist. Oder wenn ich auf einer hohen Brücke stehe, dann kann ich plötzlich spüren, dass ich frei wäre, runterzuspringen. Dann gruselt es mich, und ich halte mich stärker am Geländer fest – nicht weil ich suizidal bin, sondern aus Angst vor meiner Freiheit. Vielleicht hast du so etwas auch schon mal gespürt?

Aus einer existenziellen Perspektive ist das, was Papa Roach besingen, also eigentlich nicht falsch, kein Wahn, keine verzerrte Wahrnehmung. Aber es geht offensichtlich um großes Leid und Schmerz, bis hin zu Suizidgedanken, also zu der Weigerung, unter diesen Bedingungen weiterzuleben. „I’m running and I’m crying, I’m crying …“. In diesem Sinne kann man die Erfahrung pathologisch (wörtlich: das Leiden betreffend) nennen.

Ich habe anfangs gesagt, dass es hier um zwei Ebenen der Verzweiflung geht, und die andere Ebene ist die der eigenen Biographie und persönlichen Lebensbedingungen. „It all started, when I lost my mother – no love for myself and no love for another“. Hier geht es jetzt um die Erfahrungen und Verletzungen in unserem Leben, die uns überhaupt so aus der Bahn werfen, dass die existenzielle Ebene für uns schmerzhaft spürbar und unerträglich wird. Der Verlust der Mutter ist sozusagen die offensichtliche Wunde, die betrauert und versorgt werden muss. Die existenziellen Gefühle der Sinnlosigkeit, der Einsamkeit und der Orientierungslosigkeit, die durch den Verlust mit hochkommen, sind oft schwieriger einzuordnen, müssen aber auch ernstgenommen werden, als das, was sie sind. Die Daseinsanalytikerin Alice-Holzhey Kunz geht davon aus, dass psychisch Leidende besonders sensibel sind für die Abgründigkeit und das Beängstigende der menschlichen Existenz und deswegen oft zu Philosoph:innen wider Willen werden. Und da hilft es den Betroffenen dann nicht, diese beängstigenden Intuitionen über das menschliche Dasein z.B. mit positivem Denken wieder unter den Teppich zu kehren. Wenn etwa ein Mensch in einer Krise ganz ernsthaft den Sinn von allem in Frage stellt, dann sollte es in einer Therapie Raum für dieses Fragen und Zweifeln geben. Allzu schnelle Antworten oder ein Herunterspielen der Sinnsuche helfen hier nicht weiter.

„I’m losing my sight, losing my mind, wish somebody would tell me I’m fine“. Kann mir bitte jemand sagen, dass ich in Ordnung bin, auch wenn ich gerade am Leben verzweifle und keine Orientierung habe? Und dass ich nicht verrückt bin, weil ich gerade das fühle, was ich fühle? Das ist der Wunsch nach Unterstützung und danach wahr- und ernstgenommen zu werden – mit den individuellen Verletzungen und mit den existenziellen Fragen und Ängsten. In einer Psychotherapie mit existenzieller Perspektive geht es deswegen darum, sich sowohl mit individuellen, traumatischen (Kindheits-)Erfahrungen als auch mit den schmerzhaft erlebten Grundbedingungen des Menschseins zu beschäftigen und zu beidem eine veränderte Einstellung zu finden.

Das Menschsein kann zwar nüchtern betrachtet schrecklich wirken, aber es ist möglich, diesen Schrecken gemeinsam in eine positive und lebensbejahende Perspektive zu verwandeln. Und das Gute an alldem ist ja: Die Bedingungen des Menschseins mögen zwar beängstigend sein, aber sie sind auch das, was uns alle miteinander verbindet. Und die Verbindung mit anderen Menschen ist wiederum das, was uns in Krisen wieder ein Gefühl von Sinn und Orientierung gibt. Deswegen kann es auch gerade in einer Krise so guttun, sich einen Song über grundlegende Wut und Verzweiflung, wie „Last Resort“, anzuhören. Die eigenen Gefühle bekommen so ein Ventil und es wird eine tiefe Gemeinsamkeit spürbar, wenn ich merke: Da ist jemand, der auch schon die Schmerzen des Menschseins erlebt hat. Ich bin nicht verrückt und ich bin nicht allein.

Foto: Pexels

Christina - 14:03:36 @